Nina zieht es vor, heute nicht zu frühstücken. Die Begegnung gerade hat ihr gereicht, mehr Arne Liebnitz verträgt sie für den Moment nicht. Dabei ist es nicht so, dass sie ihn nicht sehen möchte, sondern dass sie völlig verrückt spielt in seiner Nähe. Wider besseren Wissens hätte sie ihn eben fast angefleht, bei ihr zu bleiben. All ihre guten Vorsätze, Mahnungen an sich selbst, ihr restlicher Verstand, dahin. Einem neuerlichen Versuch seinerseits, sie zu küssen, könnte sie sich nicht länger verwehren. Die gestrige Ohrfeige kam von ganzem Herzen, und doch drückte sie nicht das aus, was sie für Arne empfindet. Eine alte Rechnung, ein Kanal, das lang ersehnte Überdruckventil, um endlich frei zu sein, den selbstzerstörerischen Ballast für alle Zeiten über Bord zu werfen.
Ein altes Kapitel abschließen, um ein neues zu beginnen.
Der Kuss, so sehr sie ihn selbst begehrte, so deutlich macht er aber auch, dass Arne jede nimmt, die ihm über den Weg läuft. Nina kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, jedes Wort, jede Sekunde, jeden Wimpernschlag von ihm zu analysieren. Woher kam auf einmal sein Drang, sie zu küssen? Gab es denn zuvor Anbahnungen, Zeichen, Signale? Waren da während der letzten Tage Momente, bei denen es zwischen ihnen beiden geknistert hatte?
Nina ist sich vollkommen darüber bewusst, dass sie nicht die Dame seiner Träume ist, was ihn aber keineswegs daran gehindert hat, die erstbeste Situation zielstrebig zu ergreifen.
Und wie er das getan hat!
Schöner hatte sie es sich nie ausgemalt. Gefühlvoll und doch so männlich, ein phantastischer Küsser mit einem wahrhaft verheißungsvollen Duft. Allein dem hätte sie sich sofort ergeben wollen, einmal davon abgesehen, dass sie sich schon seit ewigen Zeiten nichts mehr gewünscht hat, als von Arne geküsst zu werden – ganz egal auf welche Weise.
Die Ohrfeige? Reiner Selbstschutz, denn dieser elementare Moment hat bei ihr weit mehr gezündet, als sie ihm einzugestehen gedenkt. Als ob sie ihr Leben in einer Warteschlange verbracht hätte, im Eco-Modus, immer darauf wartend, irgendwann doch noch an die Reihe zu kommen und endlich durchstarten zu dürfen. Ihn das wissen zu lassen wäre mit Sicherheit ein Fehler.
Man muss Männern etwas wegnehmen, damit sie anfangen, darum zu kämpfen.
Arne hat sie zwar bereits, nur weiß er das noch nicht – und das soll sich so schnell auch nicht ändern. Denn steht sie sonst nicht genau vor dem Scherbenhaufen, vor dem sie ihre übriggebliebene Vernunft zuvor zu warnen versucht hat? Ein weiterer Vorstoß von ihm und sie wird nicht länger imstande sein, ihn abzuwehren. Arne wird sie benutzen, sich an ihr austoben und sie wegschmeißen, sobald er diese Klinik wieder verlässt. Nina will gar nicht wissen, wie viele Frauen vor ihr dieses Schicksal erleiden mussten, wie viele Herzen Arne im Laufe seines Lebens gebrochen hat.
So glücklich sie sich gerade fühlen sollte, so verletzt und verlassen empfindet sie schon jetzt.
Nina springt auf und rennt schnurstracks zum Empfang. Heute kann sie ihm einfach nicht noch einmal unter die Augen treten. Sie braucht eine Pause, muss durchschnaufen und sich neu sammeln.
»Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Becker?«, flötet die Opper, als Nina an ihrer offenen Bürotür anklopft.
»Mir geht’s nicht sonderlich gut, Frau Opper. Ich glaube, ich muss mich für heute Vormittag krankmelden.«
Übersprudelnd vor Besorgnis geht der Hausdrache auf sie zu und säuselt in bester Kleinkindverständlichkeit: »Oh, das tut mir sehr leid. Kann ich Ihnen etwas bringen? Brauchen Sie einen Arzt?«
»Danke, ich denke ich brauche nur Ruhe. Vielleicht geht’s heute Nachmittag ja schon wieder.« Oppers scheinheiliges Getue lässt Nina mit einem Mal echte Übelkeit verspüren.
Wie kann man nur so verlogen sein und sich dabei so wenig Mühe geben, es nicht offensichtlich aussehen zu lassen.
»Haben sie Fieber?«, lässt Opper nicht locker, »sie sehen ein bisschen rot aus.«
»Ich denke nicht«, antwortet Nina und prüft ihre Stirn, um den Hausdrachen zufriedenzustellen und sich ihren freien Tag zu sichern.
»Oder hat sie vielleicht wieder einmal Herr Liebnitz aus der Fassung gebracht?« Oppers unverhohlene Stichelei treibt Nina noch mehr Röte ins Gesicht, das spürt sie selbst. Doch ist es weniger Scham, als purer Zorn, der ihr das Blut durch die Venen schießen lässt.
»Was meinen Sie damit, "wieder einmal"«, fragt sie angestrengt freundlich.
»Na, heute erschien mir Herr Liebnitz ein bisschen merkwürdig, nach Ihrem üblichen Kaffee.«
»Ist das so?« Nina kann sich kaum noch beherrschen. »Ich wusste gar nicht, dass wir unter Beobachtung stehen.«
Katharina Opper scheint Ninas Einwand rasend komisch zu finden, hält sich aufgesetzt damenhaft die Hand vor den Mund, während sie so tut, als wolle sie sich entschuldigen. »Frau Becker, niemand beobachtet Sie. Aber ich bekomme hier natürlich auch viel mit und jeder denkt, seinen Ballast bei mir abladen zu dürfen. Was glauben Sie, was ich mir den ganzen Tag…«
»…ja, ich verstehe schon«, unterbricht sie Nina, die das selbstgefällige Geschwätz kaum noch ertragen kann. »Herr Liebnitz und ich sitzen morgens zusammen und die Menschen brauchen etwas, worüber sie reden können, schon klar.«
»Bei mir bleibt ihr kleines Geheimnis aber ganz sicher verwahrt«, erklärt Opper freudestrahlend, als wäre sie die erste Frau auf der Welt, die sich solch ein Versprechen abgerungen hätte.
»Wie soll das gehen, wenn die anderen bereits darüber sprechen?«
Darauf scheint Opper keine schlaue Antwort zu haben und versucht es deshalb mit einer anderen Lüge: »Wir Frauen müssen uns einfach einander helfen, gerade bei so jemandem wie Herrn Liebnitz.«
»Ach ja? Klären Sie mich doch mal auf. Vielleicht bin ich zu blind für die Wahrheit.«
»Sehen Sie, Frau Becker…und ich sage das, weil es mir wirklich leid tut und ich nur ungewollt Zeuge davon wurde, wie Sie Herrn Liebnitz ansehen…aber ich denke, dass Herr Liebnitz nicht nur Ihnen schöne Augen macht.«
»Ist das so?« Ninas Entsetzen ist für einen Moment aufrichtig.
»Sehen Sie, Frau Becker, ich muss tagtäglich dagegen ankämpfen und mir von ihm Dinge anhören, die ich an dieser Stelle besser nicht wiederhole.« Ihr Blick wird immer eindringlicher und ihr Tonfall so verschwörerisch, als ob sie das Kennedy-Attentat beichten wolle. »Es ist mir richtig unangenehm, wie mir Herr Liebnitz um den Rock herumschwänzelt, ein echtes Unding, wenn Sie so wollen. Und dabei bleibt es nicht nur bei Worten, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen möchte.« Opper zieht vielsagend die Stirn in Falten und nickt bestätigend mit dem Kopf.
»Ich glaube, ich kann mir denken, was Sie mir sagen wollen«, sagt Nina und hört Opper aufmerksam weiter zu.
»Wenn ich nicht so eine gute Erziehung genossen hätte und nicht immer versucht wäre, Anstand und Würde zu wahren, hätte es schon längst zu einem Eklat kommen können.«
»Ein Eklat? Echt? So schlimm, ja?«
»Sie machen sich keine Vorstellungen, Frau Becker. Männer können ja solche Schweine sein. Gut so, dass wir Frauen endlich öffentlich dagegen ankämpfen.«
Nina muss sich eingestehen, dass sie verunsichert ist. Dass diese dumme Zicke hier ein geeigneteres Jagdobjekt für Arne darstellt, als sie selbst, geht ihr auf. Doch als aufdringlichen Grabscher, der die Grenzen überschreitet, sieht sie Arne einfach nicht. Ihrer Meinung nach dürfte er das gar nicht nötig haben.
»Ich bin geschockt, Frau Opper, ganz ehrlich. Vielen Dank, dass Sie so offen mit mir darüber sprechen.«
»Aber das ist doch selbstverständlich, Kleines. Ich könnte mir nicht verzeihen, sollte er ihnen das Herz brechen und ich hätte tatenlos danebengestanden.«
Nina hat diese Frau noch nie solche freundschaftlich erscheinenden Worte sprechen hören. Fast möchte sie ihr glauben.
»Nochmals Danke.«
Doch Oppers Augen vermögen es nicht, den tief sitzenden Hass in ihrem Innern zu verbergen, funkeln ihre ganze Falschheit und all ihre Hinterlist hervor. In diesem Moment weiß Nina, dass sie lügt. Schlimmer noch: sie spielt ein Spiel mit ihr, will sie weglocken von ihm, Arne höchstwahrscheinlich für sich selbst gewinnen.