Liebe macht die Musik

Textauszug Nummer 2


Die Gefühlslagen, von denen die Gesichter ihrer Eltern gerade zeugen, könnten gegensätzlicher kaum sein. Fast möchte Pia lachen, wäre es nicht so eine einschneidende Entscheidung, die sie gerade vor den beiden verkündet. Dicht an dicht auf ihrer Dreisitzercouch, sehen Karsten und Christine aus wie ein Pärchen aus einem dieser Loriot-Sketche. Er mit seinen halblangen, dunkelblonden Haaren, immer aufwendig gestylt, damit man das Grau nicht so schnell sieht, das sich nun auch bei ihm einschleicht. Er könnte mit dem offen stehenden Mund und den weit aufgerissenen Augen einem voll aufgedrehten Windkanal entstiegen sein. Sie daneben wirkt fast schon unbeteiligt, grinst, als ginge sie das alles gar nichts an, und als habe sie zuvor eine ganze Bong Gras alleine geraucht.

»Für was haben wir dich eigentlich studieren geschickt?«, ruft Karsten erzürnt. 

Pias Verunsicherung wächst, und sie richtet ihren Blick sogleich auf ihre amüsierte Mutter. »Das war das Erste, was ich Mum auch gefragt habe, als sie mit der Idee um die Ecke kam.«

»Du?« Karstens Kopf fährt zu seiner Frau herum. »Du hast ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt?«

Christine lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und hebt ganz langsam ihre Hände in die Höhe. »Hey«, sagt sie langgezogen und untermauert damit den Eindruck von der gerauchten Bong. »Ich habe ihr gesagt, dass sie ihr Talent verschwendet und mehr als dieses stupide Büroleben haben könnte. Und ja, das meine ich auch so. Dieser komische Feldmann und ihr Bruno, oder wie auch immer diese Idioten da heißen, wissen doch unsere Pia gar nicht zu würdigen.«

»Bernd«, korrigiert Pias Vater und schüttelt genervt den Kopf. »Mein alter Schulkollege heißt Bernd. Ich kenne ihn seit über 30 Jahren und er ist ein wirklich netter…«

»…Arsch!«, unterbricht ihn seine Frau. »Das ist er, ein wirklich netter Arsch. ICH habe Pia nämlich eben zugehört. Die treiben sie ja quasi aus dem Büro, obwohl sie so viel für die Firma getan hat. Eben erst hat sie diesen wichtigen Auftrag gerettet, diesen…«

»Hopper«, hilft ihr Pia auf die Sprünge.

»Hopper, ja genau der«, wiederholt Christine. »Und so danken sie es ihr, indem sie sie stasimäßig verhören und an die Wand stellen? Das sind wirklich ganz tolle Schulfreunde, Karsten.«

Offensichtlich hat Pias Vater keine Lust darauf, sich mit seiner Frau zu streiten. Als wäre sie nicht weiter zurechnungsfähig, winkt er ab und richtet seine Ansprache zurück an seine Tochter: »Du wolltest diesen Job doch so unbedingt. Es hatte sich alles so gut gefügt. Noch zwei oder drei Jahre und du bist da fest im Sattel und unverzichtbar.«

»Und dann?«, fragt Pia und funkelt ihren Vater offen an. »Was ist dann, Dad? Dann habe ich noch mehr Verantwortung, vielleicht mehr Geld, schön, dafür aber auch noch mehr schlaflose Nächte, Magengeschwüre und vor allen Dingen keine Zeit mehr, um zu leben. Wofür, Dad? Was habe ich davon?«

Christine kommt aus dem Nicken gar nicht mehr heraus. »Sie ist Künstlerin, Schatz. Da draußen in der Welt soll sie Sauerstoff atmen, keine Tonerdämpfe in einer 16 Quadratmeter Teppichbodenzelle.«

»Künstlerin?«, spottet Karsten und verzieht sein Gesicht. »Seit wann jetzt das?«

»Schon immer, Schatz. Sie ist Musikerin, hast du das vergessen? Wir haben sie nämlich nicht nur zur Uni geschickt, sondern auch in die Musikschule, ihr halbes Leben lang sogar. Und es hat sich ausgezahlt. Du hattest bloß die letzten Jahre keine Zeit, es zu bemerken. Wann hast du sie das letzte Mal spielen gehört?«

Karsten wirkt ertappt, und er presst seine Lippen zusammen. Für einen Moment lang herrscht aufgeregtes Schweigen. Blicke huschen von einem zum anderen, suchen Trost in Zimmerecken und auf dem Boden, Fingernägel werden gekaut. Irgendwann ist es Karsten, der diese bedrohliche Stille nicht länger aushält und fragt:

»Also sollen Studium und die ganze harte Arbeit wirklich umsonst gewesen sein, ja? Ein bisschen Ärger in der Firma, und wir schmeißen alles hin und fangen einfach noch einmal an? Klingt nach einem wirklich durchdachten Plan.«

Pia erkennt im letzten Satz die richtige Gelegenheit, den Anfangseklat endlich hinter sich zu lassen und über die wichtigen Dinge zu sprechen. Schnell erklärt sie: »So in etwa, Dad. Rainer hat mich seinem besten Freund vermittelt, der eine ähnliche Musikbar wie er selbst betreibt. Dort kann ich beides – Auftreten und Geld als Servicekraft verdienen. Und ich habe Kost und Logis frei.«

Karsten will sich offenbar noch nicht mit dem Gedanken abfinden, dass seine Tochter einer solch unsinnigen Idee erliegt. Er greift sich an die Stirn und schüttelt vehement den Kopf. »Meine Tochter, eine Servicekraft. Wenn ich das Wort schon höre, wird mir schlecht. War nicht noch was als Putze frei?«

»Karsten!«, schimpft Christine mit einem Mal laut. »Reiß dich jetzt zusammen. Das ist eine Frechheit für alle hart arbeitenden Menschen da draußen. Nur, weil du einen anderen Weg für dich gewählt hast, brauchst du nicht über andere spotten. Du verdienst mehr Geld als die meisten, okay. Aber hat Pia nicht recht? Wie oft bist du hier bei uns, um das ganze Geld auch zu genießen? Du weißt nicht einmal, dass deine Tochter eine ausgezeichnete Saxofonistin ist. Mehr Geld gibt dir nicht automatisch mehr Rechte – und ein besserer Mensch ist man deswegen schon lange nicht. Und hör Pia halt auch genau zu: Sie soll servieren UND spielen. Aller Anfang ist eben schwer.« ...